Der Kino-Poet Horst-Dieter Sihler ist nicht mehr.
Horst-Dieter Sihler, kurz HDS genannt, wurde am 15.9. 1938 in Klagenfurt/Celovec geboren. Er wuchs auf einem Bauernhof am Rand der Stadt auf, den es heute nicht mehr gibt, weil er dem Autobahnkreuz Klagenfurt-Nord im Weg stand. Sihlers Vater starb beim ersten Bombenangriff auf Klagenfurt/Celovec. Obwohl er schon in der Schule Gedichte schrieb, wurde er zunächst Maschinenbau-Ingenieur und entwarf Bauteile für Atomreaktoren. In Graz stieß er auf das Forum Stadtpark und wurde Freiberufler – „Ohne soziale Absicherung, bis heute“, wie er betont. Zunächst schrieb er Theaterkritiken, dann wandte er sich dem Film zu und wurde Spezialist für das osteuropäische Kino. Er schrieb unter anderem für „Neue Zeit“, die „Kleine Zeitung“ und die „FAZ.“ Mit schwankendem Erfolg bemühte er sich um den Aufbau einer österreichischen Programmkino-Szene. 1977 initiierte er die ersten österreichischen Filmtage in Velden, aus denen über die Jahre das „Diagonale“-Filmfestival wurde. Nach einer schweren Hepatitis-Erkrankung, die seine Aktivitäten stoppte, hat er seit 2016 fünf Bücher geschrieben. In den enthaltenen Zeitzeugen-Geschichten (Lyrik, Prosa, Essays) arbeitet er 60 Jahre Kultur- und Filmgeschichte auf.
Lojze Wieser
im Namen der Verlage Wieser+Drava
und seines Biographen Chris Haderer
v imenu založb in njegovega biografa Chris Haderer
(3. 11. 2023, Verlagsaussendung)
Bücher von Horst-Dieter Sihler
Das Buch „haus im sommer“ war die Grundlage für den Kurzfilm „Bilder einer verlorenen Landschaft“ von Chris Haderer, der 2021 beim K3-Festival in Villach uraufgeführt wurde.
- Am Anfang war die Poesie: Wie ein Dichter entsteht. Meine Gedichte des 20. Jahrhunderts (2009, Wieser-Verlag, Klagenfurt)
- Mein Kino des 20. Jahrhunderts: Erlebte Filmgeschichte (2016, Wieser-Verlag, Klagenfurt)
- Ich weiß noch nicht wie man verliert: Gedichte / Songs / Bilder (2018, Wieser-Verlag, Klagenfurt), mit Elke Aichinger
- haus im sommer: klagenfurter vorstadtpoesie: Klagenfurter Vorstadtpoesie. Erinnerungen an eine verlorene Landschaft (2020, Wieser-Verlag, Klagenfurt)
- Wie aus einem Film. Bausteine eines Kulturlebens. Miniaturen 1960-2020 (2022, Wieser-Verlag, Klagenfurt)
„Film ist das Gesamtkunstwerk unserer Zeit“
Der Kärntner Kino-Poet Horst Dieter Sihler,
von Chris Haderer
Die Abkürzung seines Namens ist fast schon ein Markenzeichen. Seine Briefe und Emails zeichnet Horst Dieter Sihler mit dem Kürzel HDS. Insgesamt fünf Bücher hat Sihler in den vergangenen Jahren geschrieben, die trotz ihrer unterschiedlichen Themen eines gemeinsam haben: sie setzen sich, ein bißchen gratwandernd, mit „Kultur“ auseinander. Sihler hat die österreichische Kino- und Kulturgeschichte seit den 1960er-Jahren miterlebt, protokolliert und zum Teil auch mitgestaltet. Er gehörte zu den Vorreitern einer heimischen Programmkino-Szene und er war Initiator der „ersten österreichischen Filmtage“ in Velden im Jahr 1977 – aus denen über die Jahrzehnte das Grazer „Diagonale“-Filmfestival wurde.
Irgendwie war auch der Lebensweg von Horst Dieter Sihler eine Art Kino; „großes“ Kino, eine Achterbahnfahrt der Erinnerungen: es gibt kaum einen Namen aus der alpenländischen Kultur- und Kunstgeschichte nach 1950, zu dem ihm nicht eine Begebenheit einfällt. Er war beim Forum Stadtpark in Graz dabei, als es noch frech und provokant war; als Wolfgang Bauer für den verstorbenen Filmemacher Ferry Radax aus dem Fenster des Rathauses rotzte; als Alfred Kolleritsch den jungen Sihler zur Literatur animierte und bevor der dann der Literatur ein bißchen den Rücken kehrte und zum Kino-Poeten wurde. „Im Hinterkopf entstand die Idee, so etwas wie ein populärwissenschaftlicher Journalist werden zu wollen“, erinnert sich Sihler. „Die, die es wirklich wurden, bewundere ich bis heute. Auf eine andere Art bin ich dann doch einer geworden, nur nicht auf technischem Gebiet, sondern auf kulturellem.“
Eine seltene Form des Hepatitis stoppte um die Jahrtausendwende Horst-Dieter Sihlers Aktivitäten – als Kritiker und als Programmkino-Organisator. „Mit 60 fiel ich einfach um und wachte Monate später erst langsam wieder auf“, reflektiert die Erfahrung, fast zu sterben. „Dazwischen lag eine bewusstlose Zeit. Ich war nicht bewusstlos, sondern einfach ohne Bewusstsein. Ich war in einem schwarzen Loch gefangen gewesen, so nannte ich das später. Ich war gestorben, so empfand ich es persönlich, als ich allmählich wieder aufwachte und mich wie auf einem fremden Planeten, wie in einem fremden Leben, neu einrichten und neu orientieren musste und alles um mich herum neu entdecken. Im Übrigen macht jeder von uns täglich diese Erfahrung. Wir schlafen alle abends ein und wachen morgens wieder auf. Auch der Tod ist nur ein Schlaf. Nur eben ein Schlaf ohne Erwachen.“
Horst Dieter Sihler lebte in einer kleinen Wohnung in der Radetzkystraße in Klagenfurt. Die Wohnung erinnert ein bißchen an ein Archiv: hunderte Bücher fangen den Blick ein, zu allen nur denkbaren Themen, vor allem aber: Kino. Vom Balkon aus sieht man das Kreuzbergl, auf dem sich Ingrid Bergmann und Omar Sharif im Mai 1964 für die MGM-Produktion „Der gelbe Rolls-Royce“ von Regisseur Anthony Asquith die Ehre gaben. Gegenüber ist eine Trafik, in der Michael Haneke einige Szenen für seinen ersten TV-Film „Drei Wege zum See“ drehte, im Jahr 1976, nach der gleichnamigen Erzählung von Ingeborg Bachmann. Unter dem Balkon ist der Gastgarten eines Feinkostladens mit angeschlossenem Café – dort feierte Sihler gerne Geburtstag. Zu seinem 80er kam auch Landeshauptmann Peter Kaiser vorbei. Der elterliche Bauernhof im Norden von Klagenfurt, nahe dem Schloss Magaregg und der Khevenhüller Kaserne, ist schon lange Geschichte: jetzt sind dort das Autobahndrehkreuz Klagenfurt Nord und ein Übungsplatz des Österreichischen Bundesheeres, auf dem nicht scharf geschossen werden darf, wegen der zivilen Umgebung. Die Gegend wird von der durch Bäume getarnten A2 dominiert. In seinem Buch „Haus im Sommer. Klagenfurter Vorstadtpoesie“ hat Sihler über den Verlust seiner Kindheit geschrieben. Horst-Dieter Sihlers Vater kam im Jahr 1944 beim ersten Bombenangriff auf Klagenfurt ums Leben. Es ist eine von vielen Erfahrungen, die Sihler im Laufe der Jahre zu Texten verarbeitete.
Nach der Schule hatte Horst-Dieter Sihler allerdings noch einen etwas anderen Karriereweg im Sinn als den, der es letztlich wurde. „Weil der Bub gut rechnen konnte“, so erinnerte er sich, schickte ihn seine Mutter auf die HTL, wo er, weil es in diesem Zweig gerade zu wenig Schüler gab, zum Maschinenbau-Ingenieur ausgebildet wurde. Bevor er zum Filmkritiker, Kinomacher, Autor und Poeten konvertierte, arbeitete er einige Jahre lang bei der Kernreaktor-GmbH Karlsruhe an der Entwicklung von Atomreaktoren mit.
Der Weg zum Kinopoeten führte Sihler von Klagenfurt zunächst nach Wien und ins Cafe Hawelka, wo er nicht zuletzt auch den Science-Fiction Heftromanhelden „Perry Rhodan“ kennenlernte, und dann zu Wagner-Biro nach Graz. Bis zum Erstkontakt mit dem Forum Stadtpark war es nur eine Frage der Zeit. Daß sich Horst-Dieter Sihler für das Theater interessierte, liegt vielleicht nicht zuletzt daran, daß er – auf einer seiner vielen frühen Paris-Reisen „schlagartig das Geheimnis des Theaters begriff“, erinnert er sich. „Der leere Raum und der Mensch. Alles andere ist eigentlich überflüssig. Die hohe Kunst der Stille, wie schon bei Charles Chaplin.“
Noch während seiner Zeit beim Grazer Forum Stadtpark, begann Horst-Dieter Sihlers Interesse für den Film zu wachsen – als eine „neue“ Kulturtechnik mit weitreichender Bedeutung, fast eine Art „Metakunst“, die alles in sich vereinigt.
Die „ersten österreichischen Filmtage“, die im Herbst 1977 veranstaltet wurden, war als Filmfestival nach internationalem Vorbild geplant und sollten nicht nur eine Werkschau des österreichischen Filmes sein sondern vor allem eine Begegnungszone zwischen Filmschaffenden, Kritikern und dem Publikum – und auch ein gemeinsames Sprachrohr um Forderungen an die Politik zu stellen. Es geschah erstaunliches in diesem kleinen Lande“, erinnert sich Horst-Dieter Sihler. „Es entstanden, fast parallel, zwei Kulturfestivals, die bis heute überregionalen Charakter haben. Humbert Fink organisierte in Klagenfurt den ersten Bachmann-Lese-Wettbewerb, den Gert Jonke gewann, und ich gründete in Velden die ersten Österreichischen Filmtage, die sich dann zur Diagonale entwickelten, mit Axel Corti als Ehrengast und dem jungen Christoph Waltz in seinem ersten Film.“
Die Filmtage sind nach einer langen Wanderung von Velden über Kapfenberg und Wels schließlich in Granz gelandet, als die speziell dem österreichischen Kino gewidmete Diagonale. An der Wichtigkeit heimischer Filmfestivals hat sich – trotz einer gewachsenen Landschaft, die vom „großen Kino“ über den Experimentalfilm bis zum Kurzfilm jedes Genre abdeckt – allerdings nichts geändert. Für Horst-Dieter Sihler sind sie nach wie vor ein Platz der Begegnung und der Selbstreflexion. Seine Tätigkeit als Geschäftsführer der Aktion „Der gute Film“ gab Sihler gewisse Freiheiten bei der Filmplanung, sodass er – als Vorreiter der Programmkino-Szene, auch Filme nach Österreich holen konnte, die auf internationalen Festivals gelaufen waren.
„Wie aus einem Film“ heißt Horst-Dieter Sihlers jüngstes Buch fast schon pflichtgemäß. Es ist kein weiteres Buch über das Kino, obwohl im Kopf sehr wohl die Bilder laufen, sondern Miniaturen aus den Jahren 1960 bis 2020. „Bausteine eines Kulturlebens“ ist nicht nur der Untertitel, sondern auch gleichzeitig die Kurzzusammenfassung des Inhalts. „Bis ins erste Corona-Jahr hinein, das auch mich einschränkte und behinderte“, beschreibt Sihler die Buch-Werdung, „entstanden zahlreiche Minitaturen, kulturkritische Erinnerungs-Splitter und auch einige Fundstücke fanden sich, die aus meinem nicht vorhandenen Archiv auftauchten, die gut dazu passten.“
Neben vielen anderen fällt in Horst-Dieter Sihlers Biografie oft der Name Peter Handke. Der besuchte Sihler gelegentlich in Kärnten, als es statt der Autobahn noch den Bauernhof bei Magaregg gab. Einmal, so erinnert sich Sihler, brachte Handke das Manuskript seines ersten Romanes „Die Hornissen“ mit und wollte seine Meinung hören. Auch im Kino waren sie zusammen, im Western „The Hanging Tree“ mit Gary Cooper und Maria Schell – was Peter Handke zu seinem Text „Der Galgenbaum“ veranlasste. Auch das ist zu einer Miniatur geworden, die wie ein kleiner Zeitzeuge auf die letzten 60 Jahre zurückschaut.