Dieses Prinzip wirkte sich auf jede Handlung, jedes Tun, jede Geste des Einzelnen aus. Nur Kinder durften eine kurze Zeit, und zwar bis sie von der Mutter entwöhnt waren, ein Leben ohne Verbote und - in der Zahl nicht geringeren - Gebote verbringen. Das Individuum hatte sich dem göttlichen System zu beugen und nach einem bis ins kleinste Detail durchkalkulierten Ritual zu leben und zu sterben.
Das Ritual: Die Welt transformierend - die Welt enthüllend.
Machen wir uns über das Wort “Ritual” Gedanken, so denken wir es uns sofort in einem religiösen und/oder mystischen Zusammenhang, meist als eine Form “primitiver Technologie”, mit dem Anspruch, Macht über eine Gruppe von Menschen zu demonstrieren und dadurch immer wieder von neuem zu manifestieren.
Doch die grundsätzlichen Fragen im Zusammenhang mit jeglicher rituellen Handlung sind:
- Was will man dadurch erreichen?
- Welcher Effekt soll dadurch erzielt werden?
Ein Beispiel ist “Das Zeremoniell des Neuen Feuers”, eines der größten und wichtigsten Feste im Aztekenreich. Es wurde alle 52 Jahre gefeiert - um den Beginn einer neuen Zeit zu zelebrieren, und die alte zu begraben. Die Menschen blickten nicht nur enthusiastisch, sondern auch ängstlich der neuen Zeit entgegen. So herrschte eine aufbrechende Stimmung und Endzeitstimmung zugleich. Etwas Neues wird immer durch den Tod des Alten abgelöst.
In der bestimmten Nacht, die den Beginn des Festes anzeigte, begaben sich die Priester auf einen Berg in der Nähe von Culhuacan, befreiten beim ersten Sonnenstrahl ein Herz aus dem Körper eines noblen Kriegers, um es der aufgehenden Sonne und den lodernden Feuerzungen zu verfüttern. Die Flammen schlugen hoch, und ein Bote brachte das neue Feuer zum Tempel des Huitzilopochtli. Von dort wurde es in der ganzen Stadt verteilt. Viele Feuer brannten, viele Herzen verstummten. Die Stadt tobte. Tänze und Rituale - von den Priestern einstudiert - beherrschten die Straßen. Doch es war keine unkontrollierte Ausgelassenheit wie im Karneval, sondern alles lief nach einem genau determinierten Muster ab. Die niedrigste Schicht verrichtete die Arbeit im Backstagebereich, der stolze Krieger erlebte durch die Präsentation seiner Gefangenen einen gewaltigen Triumph. Jeder einzelne hatte seine ihm auferlegte Funktion, um dieses großangelegte Fest gelingen zu lassen. Eine Menschenmasse von Stolz und Erfurcht erfüllt, sich andererseits immer der ständigen Bedrohung des Todes bewußt, zelebrierte dieses Großereignis.
Die Konzeption dieses Festes kann auf das gesamtpolitische System angewendet werden: Das Leben angelegt als große niemals endende Performance mit einem starren Drehbuch. Das Dasein des Einzelnen eingebettet in einen großen pulsierenden Mechanismus - als Akteur in einem großem Spektakel.
Das Prinzip der Azteken ist ein Duales. Es herrschte eine Diskrepanz zwischen sozialer Grazie und monströsem Ritual. Ein Paradoxon, das die Spanier des 16. Jahrhunderts sichtlich verwirrte.
Wie konnte dieses System funktionieren?
Männer - Krieger, Priester und Händler
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird großteils vergessen, was die Geburt eines Jungen für eine Familie bedeutet hatte. Für die Azteken hieß die Geburt eines tapferen kühnen Kriegers, dass dieser die Ehre und Würde der Familie zu erhalten hatte. Sein Leben war den Göttern und ihren Forderungen, dem Krieg und der Erhaltung des Reiches gewidmet. Dieses Bild des männlichen Helden galt auch für die Priester und Händler. Die Priester führten die Krieger in die Schlacht, die Händler machten aus ihren “Handelsreisen” kriegerische Feldzüge, und agierten als “Headhunter”. Eine durch und durch patriachale Gesellschaft mit hehren Idealen.
In dieses Bild nun wurde ein Junge geboren - designiert zum Krieger! Die Verwandten und Nachbarn verkündeten seinen Namen auf den Straßen, um ihm seinen ersten Triumph zu verschaffen. Einige Tage nach der Geburt erhielt er offiziell seinen Namen und mußte die erste Penetration seines Leibes erfahren. Die Priester markierten den Jungen mit dem traditionellen Unterlippenstecker. Jedes Jahr versah man seinen Körper mit neuen Zeichen - um den Vertrag mit Huitzilopochtli immer wieder von neuem zu unterzeichnen. Ab einem Alter von drei Jahren verbrachte er seine Zeit mit dem Vater, um dessen Geschicke und Fähigkeiten zu lernen. Mit zehn Jahren begann die harte Ausbildung zum kühnen, aber ehrerbietigen und würdevollen Krieger. Für Jungen, die zum Priester berufen wurden, begann die Ausbildung schon im Alter von vier. Zusätzlich zur Kriegerausbildung erlernte der Junge meist einen herkömmlichen Beruf - zur Absicherung - falls die Vorsehung nicht auf seiner Seite war.
Zu Ruhm, Ehre, Würde und Erfolg gelangte der junge Krieger erst durch den Sieg im Kampf und über die Anzahl seiner Gefangenen. Der erste Gefangene seines Lebens machte ihn zum Manne. Dies hatte nicht nur ein großes triumphales Fest zur Folge, sondern auch ein absolute Änderung des äußerlichen Erscheinungsbildes. (Die Jungenkleider wurden abgelegt und die Frisur verändert.) Das Ansehen eines Kriegers stieg mit der Anzahl der Gefangenen, so auch die Prächtigkeit der Kleidung und der Insignien. Jeder Aufstieg hatte jedoch eine Kehrseite. Je höher der Berg - umso tiefer die Schlucht. Ein kleiner Fehler führte zur Verdammung ins beschämende Exil - in den eigenen Haushalt zu Frau und Kindern. Die Rekrutierung durfte erst wieder nach zwei Jahren stattfinden. Je nobler der Krieger - umso grausamer und schmerzvoller die Strafe. Ruhm war die Hauptantriebskraft für den Krieger. So starb der ruhmreiche Krieger auch einen ruhmreichen Tod und verwandelte sich in einen Kolibri oder einen Schmetterling.
Im Aztekenreich gab es schon immer Priester. Dies veranschaulichen die Bildergeschichten der Codices. Sie zeigen vier Priester - drei männliche und wahrscheinlich eine weibliche, die das heilige Bündel des Gottes Huitzilopochtli zu den Menschen zu bringen hatte.
Die aztekischen Priester waren Meister der Selbstkasteiung. Ihr Leben bestand aus langen Fastenperioden, einsamen Nachtwachen, selbstzufügen von Fleischwunden – um aus der eigen Kraft des Blutes zu zeichnen. Während die Krieger sangen und tanzten, war es die Pflicht der Priester, alleine ins Dunkle der Nacht zu wandern, um die Grenzen der Stadt zu patrollieren. Die Nacht allein sah die Priester, die auf ihren Muscheltrompeten bliesen und spezielle Plätze mit Zeichnungen versahen - gefertigt aus ihrem eigenen Blut.
Doch die Priester waren auch jene, die die Ruder in der Hand hielten. Sie waren die Kriegsherren, die Strategen, und sie organisierten und koordinierten die großen Feste. Nicht jeder hatte die Ehre, zum großen Priester zu werden. Allem voran ging ein qualvoller Test, der immer zu den Feierlichkeiten für den Regengott Tlaloc (24. Mai - 12. Juni) stattfand. Fünf Tage hindurch wurden kleine Portionen Mais gegessen, kaum geschlafen, in rituellen Handlungen den Ohren Wunden zugefügt und Feuer für die Tempel und Priesterhäuser gesammelt. Die Priester waren durch die andauerende Selbstkasteiung in einer fürchterlichen Stimmung. Verstieß einer der Priester gegen die Regeln, und das konnte schnell passieren, hatte dies eine brutale Bestrafung zur Folge. Je stärker die Müdigkeit, je größer der Hunger, umso schneller griff Brutalität gegen die anderen um sich. Am fünften. Tag streiften sie durch die Straßen, begleitet von Tänzern, erklommen die Pyramiden und verrichteten ihr blutiges Werk - angeheizt durch die Trommelschläge der kühnen Heroen, die ihre Gefangenen stolz dem Volke präsentierten.
Das Leben der Priester fand meist im Verborgenen statt. Über das Priestertum in Mexiko ist wenig bekannt, da kaum einer die spanische Invasion überlebte. Für Priester nämlich hatte sich Cortés einen speziellen Tod ausgedacht - sie wurden von Hunden in Stücke gerissen.
Eine Gruppe stand abseits des Kriegerethos. Es waren die Händler, die starke Gemeinschaften bildeten. Eine Schichte, die für das Bestehen des Imperiums nicht unwesentlich war. Sie waren die treibende wirtschaftliche Kraft, sie waren die Handwerker und Künstler. Oberflächlich gesehen unterwarfen sie sich genau wie jeder andere dem göttlichen System, jedoch konstruierten sie ihre eigene Nation in der Nation, indem sie die strengen Gebote und Verbote zu ihrem eigenen Vorteil nützten - zur persönlichen Bereicherung und um die Möglichkeit zu haben, in eine höhere Gesellschaftsschicht aufzusteigen zu dürfen.
Im Dunkel der Nacht verschwanden sie um ihre Handelsexpeditionen zu machen, im Dunkel der Nacht kamen sie wieder, und versteckten ihre Beute an geheimen Plätzen. Der Reichtum der Händler war ungemein. Natürlich wurden auf den Beutezügen auch Gefangene gemacht, die den Göttern zur Opferung dargebracht wurden. Dadurch hatten sie die Möglichkeit in einen Art Halbadel aufzusteigen, der einen privilegierten Status einnahm. Doch die Händler hatten noch eine andere Funktion - sie agierten als Spione.
Die Händler hatten ihren eigenen Gott, der sie auf all ihren Reisen begleitete Yacateuctli wurde durch aneinandergelehnte Reisestöcke symbolisiert - der transportable Gott, der ihnen immer zur Seite stand. Bescheiden wie er war, gab er sich mit dem wenigen, das ihm dargebracht wurde, zufrieden. Im Idealfall wurden ihm Truthahnköpfe und ein kurzer Moment der Andacht geboten.
Frauen - Hausfrauen und Mütter
Die Frauen waren in der patriachalen Gesellschaft der Azteken ein unterprivilegierter, dennoch sehr wichtiger Faktor. Bis zum Alter von drei Jahren erfuhren die Mädchen und Jungen die gleiche Behandlung, dann trennten sich ihre Wege. Die Mädchen lernten kochen, spinnen, weben, sticken, und wurden zur Haus- und Ehefrau und Mutter ausgebildet, während sich die Jungen der strengen Ausbildung zum hehren Krieger unterziehen mussten.
Frauen hatten sich in ihrem Benehmen strengen Vorschriften zu beugen. Das Haar durfte niemals offen getragen werden, der Blick musste nach unten gesenkt bleiben. Sie durften in der Öffentlichkeit nicht sprechen ... Die einzige Möglichkeit der Beschwerde wurde den Frauen nur dann gewährt, wenn der Ehemann seine sexuellen Pflichten nicht erfüllte oder erfüllen wollte, beziehungweise gleichgeschlechtlichen Neigungen fröhnte. Auch die Homosexualität unter Männern wurde geringer bestraft, als lesbische Liebe, für das die Verbrecherinnen mit ihrem Leben bezahlen mussten. Feministisch gesehen hatte die Frau primär Gefäßfunktion und Gebärfunktion. Das männliche Kind wurde nicht als Stammhalter gesehen, sondern primär als tapferer Krieger – als Eigentum der Götter. Die Götter gaben und nahmen – wie es ihnen gerade gefiel. Die Geburt eines Kindes wurde glamourös gefeiert. Sie wurden als wertvolle “Gefangene” willkommen geheißen und als wunderbare Geschenke der Götter angesehen - natürlich immer entsprechend ihrer speziellen Verheißung. Der Geburt des Kindes wohnte ein Priester bei, der aus dem “Buch der Tage” das Schicksal des Kindes deutete, das auch den Tod auf dem Opferstein heißen konnte. Der Verlust eines Kindes, das ganz und gar den Launen der Götter und ihren Exekutoren ausgeliefert war, war für die Mütter ein schmerzvolles Erlebnis. So gab es aber auch Frauen, die sich dieser patriachalischen Repression nicht beugten - Prostituierte und Händlerinnen.
Doch zurück zu der Ausgangsfrage - Wie konnte so ein System, auf mörderischen Ritualen basierend, funktionieren?
Diese Frage erklärt sich ganz von selbst in einer sehr simpflifizierten Metapher. Stellen wir uns einen komplexen Organismus vor. Am Leben erhalten durch den Mythos der Götter - als Erklärung für die Launen der Natur. Der Lebenssaft war menschliches Blut. Das Brot und Kuchen das menschliche Fleisch. Die Lebensenergie die Furcht vor dem allgegenwärtigen körperlichen Schmerz.
Claudia Altendorfer, Wien 1999